VON DER ABSTRAKTION ZUR RENATURALISATION

Werner Ballarin

Wenn man die Entwicklung der Kinderzeichnung von der Kritzelstufe über die Schemastufe bis zum Bemühen der Pubertierenden um möglichst naturgetreue Wiedergabe des Gesehenen weiß, verwundert man sich sehr, in der Kulturgeschichte der frühen Menschheit die Aufeinanderfolge gerade umgekehrt zu finden.
Die Kultur des Abstrakt-Ornamentalen entwickelte sich nämlich erst lange nach dem verblüffenden Realismus der Jäger und Sammler. Und die neuere Kunstgeschichte bestätigte diesen Weg der Entwicklung "vom Niederen", von der naturalistisch-sensualistischen Abbildung, "zum Höheren", zur expressiven Abstraktion, zur abstrakt-ungegenständlichen Gestaltung.
Ein Nonplusultra schien damit erreicht.

Ernsthafte Künstler versuchten dennoch ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bis in unsere Tage, trotz oft staatsoffizieller Diskriminierung von Seiten totalitärer Systeme, den Avantgardismus vor allem in seiner expressiven Ausprägung auszuschreiten. In den offeneren Gesellschaften folgten auf diesem Wege Ismen auf Ismen und arts auf arts, die die im Jahrhundertanfang angelegten Einzelaspekte jeweils zum ausschließlich dominierenden bildsprachlichen Gegenstand erhoben.
Eine weitere Alternative waren die Versuche, zu einem altmeisterlichen Realismus zurückzukehren, die es besonders in zwei Ausprägungen gab und gibt: als manieristisch-romantische Beschwörung des Geschichtlichen und Mythischen oder als leichtverständliches Transportmittel tendenziöser Kunst.

Wenn man nun die Arbeiten T.M. Rotschönbergs anschaut, scheinen sie auf den ersten Blick zu der bekannten Weiterführung des Erbes Karl Schmidt-Rottluffs in der freieren Manier der "Jungen Wilden" zu gehören.
In einigen seiner Gemälde entdeckt man jedoch etwas Frappierendes: statt der noch immer überall fortschreitenden Denaturalisierung eine Vergegenständlichung abstrakt gedachter Farb- und Formkompositionen, eine Re-Naturalisation.
Ein Beispiel dafür sind die "Zwei gekreuzten Baumstämme" von 1994: In hieratischer Geballtheit liegt eine Kreuzform schräg im Bild.
Und mit der Methode der Renaturalisation, die ein Auwaldstück ringsum entstehen läßt, deutet sich das Kreuz zu gefällten Stämmen um.
Wenn dieses Prinzip auch nicht durchgängig zu herrschen scheint, so hat es doch Methode und zeigt sich immer öfter angewandt. Schon bei Arbeiten von 1991 hat man den Eindruck, als wandelten sich die linearen Kreuz- und Parallelstrukturen des Künstlers erst im Nachhinein zu einem Windbruchwaldstück ("Unteres Nakra-Tal") und als seien seine dynamisch-parallelen Linienschwünge schon dagewesen, bevor sie sich zu Blütenzweigen und farbigem Geäst ("Botanischer Garten" und auch "Dorf bei Mirleft") entfalteten.

Dr. W. Ballarin, Kunsthistoriker, Direktor der Neuen Sächsischen Galerie, Chemnitz, Mai 1997